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  • Übersicht und Verständnis

"Mensch-Sein": Übersicht und Verständnis psychischer Besonderheiten/Störungen

Doppel-Dialoge mit Experten aus persönlicher und beruflicher Erfahrung

Meist sehen wir psychische Erkrankungen als etwas Fremdes an, das immer nur andere betrifft. Doch der Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit ist fließend – seelisch wie körperlich. Was haben die verschiedenen "Störungsbilder" mit uns allen zu tun? Wo sind sie nicht nur fremd und normabweichend, sondern verdammt nah und zutiefst menschlich? Was in Krisen als Bewältigungsstrategie beginnt, kann eine Eigendynamik entwickeln und uns (meist vorüber-gehend) arbeitsunfähig machen und zur Krank-Schreibung führen.

Das Risiko, psychisch zu erkranken, ist dennoch nicht für alle Menschen gleich. Je ärmer Sie sind und je prekärer Sie leben, desto näher rückt eine psychische Erkrankung und umso schlechter sind Ihre Heilungschancen. Die Lebensbedingungen und die Ökologie spielen eine wichtige Rolle bei Erkrankung und Genesung: Je größer die Diskrepanz zwischen arm und reich, desto höher ist die Rate psychischer Erkrankung. Zu viel oder zu wenig Arbeit kann kränken und krank machen. Studien legen nahe, dass jedes Grad Erderwärmung  den Lebens-Streß und damit die Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankung um 1% erhöht. Entsprechend verweisen alle Bemühungen um Prävention auf die Verantwortung der Politik.

Im Folgenden äußern sich jeweils ExpertInnen aus eigener Erfahrung und mit beruflichem Hintergrund zu verschiedenen Aspekten psychischer Störungen – zunächst zu Depression, Manie, Borderline-Störung, Sucht, Psychose, Angst und Zwang. Weitere Doppelinterviews werden folgen.  Ziel ist, Angst zu reduzieren, die menschliche Vielfalt zu verdeutlichen und entsprechende Hilfen einzufordern. 


Beim Thema „Depression - Eigendynamik eines Schutzmechanismus?“ sprechen Prof. Sönke Arlt, Chefarzt der Hamburger Albertinen-Klinik, und Rolf Sieck von Irre menschlich Hamburg. Es geht um diese Fragen: Depressionen gelten als Volkskrankheit. Sind sie deshalb typisch deutsch? Depressionen sind nicht zu verwechseln mit Trauer, eher ein Zustand der Fühllosigkeit – sind wir unfähig geworden zu trauern? Bis wann ist es ein Schutzmechanismus, nicht zu fühlen, ab wann eine Katastrophe? Welche Bedeutung hat der Verlust des Zeitgefühls? Welche Rolle spielen Belastungen bei der Arbeit und biographische Konflikte. Was hilft und was können wir präventiv tun? Wie gelingt die Balance von Beistand und Entlastung, von Ernst nehmen und Ermutigung?


Im zweiten Doppel-Dialog geht es um die Manie als einer Möglichkeit einer Flucht nach vorne raus aus der Depression. Wir sprechen von einer Bipolaren Störung und meinen damit die besondere Spannweite hinsichtlich Stimmung und Antrieb nach unten und oben.  Die Manie als Gegenpol kann kreativ und schillernd, aber manchmal auch beschämend und zerstörerisch sein. Sie kann den Weg aus der (depressiven) Überanpassung weisen, aber auch die nächste Depression vorbereiten. Gesprächspartner sind Dr. Hans-Peter Unger, eh. Chefarzt der Asklepios Klinik Harburg und Margrit Grotelüschen, Genesungsbegleiterin an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE). Was unterscheidet die Bipolare Spannweite von den Stimmungsschwankungen, die wir alle kennen? Ist unser Zeitgefühl entscheidend? Können wir vorher und nachher noch unterscheiden? Wir brauchen ein Gegenüber, um uns zu spiegeln, zu halten, zu begrenzen. Wir brauchen Hilfen, die nicht kränken, die niedrigschwellig und kontinuierlich zur Verfügung stehen, die nahe Angehörige selbstverständlich einbeziehen. Ein starkes Plädoyer für mehr Engagement der PsychotherapeutInnen in Kooperation mit Psychiatrischen Institutsambulanzen und Peer-Support.


Beim dritten Beitrag geht es um Persönlichkeitsstörungen – mit der Frage "Wer stört wen warum?" und einem Fokus auf die Grenzgänger- (Borderline-) Erfahrung: Wir möchten uns unterscheiden, Eigenheit bewahren. Wir sprechen von akzentuierten Persönlichkeiten und von Persönlichkeitsstörungen? Wo ist der Übergang, welche Rolle spielt der soziale Kontext? Was gilt es zu lernen von und für Menschen mit Borderline Erfahrung? Was steckt hinter den vordergründigen Konflikten, hinter Selbstverletzung und Suizidalität? Welche Rolle spielen traumatische Erfahrungen, welche die Ressourcen? Wie schaffen wir es, dass nicht die einen zu viel, die anderen zu wenig Hilfe bekommen? Die Diagnose steht infrage – auch weil wir es schaffen müssen, die persönlichen Konflikte wahrzunehmen und nicht bestimmte Muster zu verstärken. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) wurde von Marsha Linehan geprägt, die nach ihrer beruflichen Tätigkeit auch eigene Krankheitserfahrungen offen machte. Die Gesprächspartner plädieren für eine Ergänzung der DBT durch das Trainingsprogram STEPPS ( dt. "Erkennen von Emotionen und Problemlösen systematisch trainieren"), für den Vorrang ambulanter Strukturen und für mehr Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen – mit und ohne Diagnosen. Zu Woprt kommen Dr. Ewald Rahn, eh. Chefarzt LWL Klinik Warstein und Dr. Christiane Tilly, Mitarbeiterin in einer psychiatrischen Klinik, mit eigener Krisen- und Behandlungserfahrungen.


Sucht ist verbreitet und vielfältig – kann auf Stoff oder Handeln bezogen sein. Es war ein Fortschritt, Sucht nicht mehr als Sünde oder Versagen, sondern als Krankheit zu begreifen; doch die Balance zwischen Abhängigkeit und Freiheit sowie zwischen maßvollem und maßlosem Handeln oder Begehren betrifft jeden Menschen. Anthropologisch haben Rauschzustände eine lange Geschichte; doch waren sie möglicherweise früher stärker kulturell eingebunden. Was bedeutet das für die notwendige Vielfalt von Hilfen und Prävention? Warum haben manche Menschen ein höheres Suchtrisiko als andere? Gibt es Beziehungserfahrungen und Arbeitsbedingungen, die vor Sucht bewahren oder hineintreiben können? Warum sollten Angehörige mehr einbezogen und Strukturen flexibler werden und Therapeuten weniger verurteilen und vollständiger wahrnehmen? Ein Plädoyer für mehr Individualität in der Suchthilfe und mehr Politik in der Prävention – von Dr. Martin Reker, Chefarzt der Suchtklinik Bethel und Timo Schüsseler, Suchterfahrener Autor.


Angst ist eine überlebenswichtige Fähigkeit, Angstbewältigung die Basis jeder Kultur oder Religion. Warum läuft sie manchmal aus dem Ruder? Rituale können Ängste bändigen. Vielleicht bietet unsere Kultur inzwischen zu wenig davon. Greifen wir deshalb auf Zwänge zurück? Wann und warum wird aus dem Schutzmechanismus ein Gefängnis? Welche Rolle spielt Psycho-therapie? Ergänzen sich die Schulen? bewegen Sie sich aufeinander zu? Welche Rolle spielt, dass Existenzängste heute berechtigter sind denn je. Wie können wir konstruktiv umgehen mit unserer gemeinsamen Angst um die Natur, den Frieden, die Solidarität, unsere Gemeinschaft, um die Welt? Wird die Unterscheidung von gesunder und kranker Angst dann sinnlos? Zu Wort kommen Prof. Lena Jelinek von der Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) und Ralf vom Verein Irre menschlich Hamburg.


Unsere Haut kann durchlässig werden, sodass innere Dialoge zu äußeren werden und reale Bedrohungen/Informationen uns filterlos (be)treffen. So reagieren wir in Psychosen oft schneller nicht nur auf vermeintliche, sondern auch auf reale Gefahren – fast wie Seismographen. Was bedeutet das angesichts der aktuellen Bedrohung der Welt? Zugleich erscheinen Psychosen wie ein Ringen um Selbstverständlichkeit und wie ein Zustand, in dem plötzliche Nähe und Enge bedrohlich wirken kann. Wir brauchen dann für unsere existentielle Versicherung ein Gegenüber, brauchen Beziehungen, die uns spiegeln, halten, zugleich Raum für Autonomie und ein konstruktives therapeutisches Milieu. Wie schaffen wir eine Beziehungs- und Behandlungskultur, die weniger Angst macht, weniger Stigma fördert,  Eigen-sein sichert, ohne Schutz zu vernachlässigen? Egal in welchem Setting – ambulant, stationär und aufsuchend zuhause? Welchen besonderen Stellenwert haben Psychotherapie und Genesungsbegleitung? Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz ist Chefarzt der Psychiatrie an der Berliner Charité, Gwen Schulz arbeitet als psychoseerfahrene Genesungsbegleiterin am der Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf.


Mit diesem trialogischen Rückblick schauen Gwen Schulz, Dr. Sabine Schütze, Marion Ryan auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der bisherigen Themen, ergänzen z.B. die Angehörigen-perspektive und betonen den großen Gewinn, den Menschen mit Doppelerfahrung in den Diskurs und in die Versorgung einbringen. Wir plädieren gemeinsam dafür, dass überall in Psychiatrie und psychosozialer Versorgung Genesungsbegleiter:innen und Angehörigenberater:innen beschäftigt werden.  


2. Teil

Die Möglichkeit das Leben infrage stellen zu können, unterscheidet den Menschen von den meisten anderen Lebewesen; es in bestimmten Situationen überhaupt nicht mehr spüren oder würdigen zu können, kann Ausdruck großer Not sein. Warum ist es wichtig, zwischen lebensmüden Gedanken und suizidalen Impulsen zu unterscheiden? Wo müssen wir geduldig beistehen, wo einer suizidalen Dynamik entgegenwirken? Warum ist Vorhersage sehr schwierig, Prävention aber auf mehreren Ebenen dennoch möglich? Wie können wir ins Gespräch kommen? Warum kann oder muss Suizidalität so viel Angst machen, obwohl die Häufigkeit von Suiziden kontinuierlich abnimmt? Wo ist das Sterben-wollen hinzunehmen? Warum ist Suizidassistenz bei Menschen mit psychischer Erkrankung auch unabhängig vom freien Willen fragwürdig? Prof. Dr. Thomas Bock im Gespräch mit Prof. Dr. Tobias Teismann, Uni Bochum, und Christina Meyn, Genesungsbegleiterin Lüneburg


Keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung; vielleicht nicht einmal Störung, sondern Ausdruck der Neurodiversität/ Vielfalt des Menschen. Was ist trotzdem typisch – von der Reizfilterschwäche bis zur Unabhängigkeit von sozialen Normen? Was brauchen Menschen mit diesem Hintergrund – bezogen auf Lebensbedingungen und Entwicklungshilfen? Wie wichtig sind Geduld und Empathie, Anerkennen der Individualität und Wahrnehmung der Stärken? Welche Risiken drohen, wenn das nicht gegeben ist – in Kindheit, Schule, Ausbildung und Beruf? Welchen Unterschied machen Selbstfindung und Fremdzuschreibung? Warum scheint sich die Geschlechter-Verteilung anzunähern? Gibt es eine Zunahme der Erfahrung (geschätzt 1%) oder eine größere Akzeptanz der Diagnose? Welche Rollen spielen berühmte Menschen und Selbstvertretung? Was ist der gesellschaftliche Nutzen für uns alle, wenn wir unser Bild des Mensch-Seins erweitern? PD Dr. Daniel Schöttle, Chefarzt Asklepios Klinik Harburg; Dr. Imke Heuer, AG sozialpsychiatrische und Partizipative Forschung UKE und autSocial e.V.; Antje Horn-Engeln, Elternverein Autismus Hamburg e.V.


Was ist ein Trauma? Welche Unterscheidungen sind in Bezug auf den Begriff wichtig? Ab wann wird ein Trauma erinnert oder verdrängt, bedingt oder unbedingt wirksam, überwindbar oder tragbar? Hat jeder Mensch mit psychischer Erkrankung etwas erlebt, was das eigene Fassungsvermögen sprengt? Ist das immer ein Trauma? Was brauchen wir, um Traumaerfahrungen zu überwinden oder zu integrieren? Wie kommt Resilienz zustande? Was kann/muss Psychotherapie bieten zwischen den Polen Alles oder nichts/Ignoranz oder Konfrontation. Was macht den therapeutischen Raum aus? Balanceakt zwischen Licht und Dunkelheit, Respekt? Warum ist Anteilnahme wichtig und Wegnehmen eigentlich unmöglich. Prof. Dr. Dorothea von Haebler, Leiterin des Masterstudiengangs "Interdisziplinäre Psychosentherapie", IPU & Charité Berlin / Gwen Schulz, Genesungsbegleiterin UKE


Hier sollen weitere Doppel-Dialoge, wie zu "Demenz – trotzdem dazugehören", folgen (Kontakt über Thomas Bock, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder die Kontaktdaten des Vereins).